Gisela Leitner berichtet

Biographie

1943 in Erfurt geboren

1959-62 Ausbildung an der Textilwerkstätte Nürnberg

1962 Lehrabschluss an der Staatlichen Textilfachschule Münchberg

1962-63 Studium an der Nürnberger Gobelinmanufaktur bei Prof Irma Goecke

1963-65 weiterführendes Studium an der Ecole d'art decoratif d'Aubusson bei Prof Michel Tourliere sowie an den Manufakturen Wien und München

1967 Staatliche Textilfachschule Münchberg - Meisterprüfung

seit 1968 freischaffend tätig

 

Webseite Gisela Leitner

„Mit 16 Jahren hatte ich ein Schlüsselerlebnis in München bei einer Ausstellung, als ich zum ersten Mal einen Lurçat-Teppich gesehen habe. Vier Jahre später war ich in seiner Schule in Aubusson, um dort zwei Jahre zu leben. Als einzige Deutsche war es 1963 nicht leicht, überhaupt ein Zimmer zu mieten, denn in den Köpfen der älteren Generation waren die Kriegserinnerungen sowie der Hass auf Deutsche noch sehr lebendig. Immer wieder wurde man abgewiesen, da man ja mit dem bewussten Akzent sprach. Doch eine Blutspendeaktion änderte schlagartig die Vorurteile der Bewohner. Mein Blut wurde genommen und seit dieser Zeit verbindet mich so etwas wie eine Blutsfreundschaft mit den Menschen des Limousin.

In der Ecole d'art decoratif, die Jean Lurçat 1960 in Aubusson gründete, wo Studenten aus vielen Nationen, selbst aus Thailand, ins Limousin kamen, träumten wir von einem Europa mit einheitlicher Währung. Was man halt mit zwanzig Jahren Weltumwerfendes erträumt. ..

Der Meister Lurçat ermutigte uns mit den Worten: ,Il faut serrer la main, meme ceux qu'on n'aime pas' zur Völkerverständigung beizutragen. Seine große Tapisserie bei KLM in Paris trägt den Titel: ,La voie des airs unit les peuples'. Unsere Entwürfe waren alle von diesem Gedanken getragen. Drei Jahre später verstarb Jean Lurçat, Für uns war es der erste liebgewordene Mensch im Limousin, den wir lassen mussten. Aber seine Gedanken leben in uns fort: ,C'est l'aube' verkündet sein Grabstein.

Seit dieser Zeit spinne ich die Fäden zum Limousin und webe am Gewand der Freundschaften. Humanität und Kreativität gehen für mich Hand in Hand. Geprägt durch mein Elternhaus, den Dienst am Menschen, durch den frühen Kontakt mit Frankreich und die frühe Unterstützung, meinen Weg zu gehen, wurde ich das, was ich heute bin.

Wichtig dabei war Michel Tourlière, mein Direktor. Tourlière war Schüler von Lurçat und hat damals schon versucht, diese vielen Ornamente und die Sprache, die Lurçat hatte, zu vereinfachen. Wir waren Praktikanten in dieser Entwerfergruppe bei ihm und hatten alle dasselbe Gefühl, wir müssten das vereinfachen, was Lurçat so wunderbar ausdrückte. Wir wollten nicht seine Handschrift übernehmen und wollten natürlich ausbrechen aus dem Traditionellen.

Ich habe damals zum Beispiel ein filiertes Blatt gewebt, in dem sehr viele offene Kettfäden stehen, und das war dann im Völkerkundemuseum in München ausgestellt. Aber es hat Anklang gefunden, etwas in den Raum zu gehen, auch dreidimensional zu arbeiten.

Tourlière stammte aus der Bourgogne, und man spürt direkt die Weinberge, die ihn geprägt haben. In all seinen Teppichen sind diese Schraffuren deutlich zu sehen. Diese Schraffuren, die ein Flimmern der Luft oder etwas Durchsichtiges schufen, sie haben auch ein wenig ihre Spuren in meinen Arbeiten hinterlassen. Tourlière sagte damals, man müsse das Gefühl haben, in die Teppiche hineinlaufen zu können; dann sei er gelungen, dann sei er auch keine rein dekorative Sache mehr. Damit bekommt das Ganze Volumen und Leben, und das Licht spielt dabei eine große Rolle. Das Licht war bei allen meinen Arbeiten immer wichtig.

Meine Tapisserie ,Herbst' beispielsweise ist 1966 als Beitrag für einen Wettbewerb entstanden. Ich suchte darin die Perspektive einzufangen und die Stimmung des Herbstes.

Man kann in die Landschaft hineinlaufen, man spürt die dunklen Bäume im Vordergrund - ganz anders als bei Lurçat, der Schwarz als Hintergrund genommen hat. Die Bäume spiegeln sich in etwas Feuchtem, Herbstlichem, so dass man, wenn man weitergeht, das Licht, das Weiße ganz hinten spürt. Bei Lurçats Teppichen ist das Weiße immer ganz vorne.

Dieses Spiel fasziniert mich so, dass ich nicht mehr aufhören kann zu arbeiten und zu experimentieren. Genau wie Lurçat selbst es immer war und alle, die in diesem Metier tätig sind, so bin auch ich eine Suchende.

Es ist von Vorteil, wenn man ein Werk entwirft und gleichzeitig am Webstuhl gestaltet: Ich male quasi mit Wolle direkt am Webstuhl, habe mir nur die Linien des Entwurfs vergrößert und unter die Kettfäden gelegt. Es entstand alles beim Weben, auch die Farben. Jeder Entwurf ist um 90 Grad gedreht - wenn er vor mir liegt, dann ist die Höhe des Teppichs meine Webbreite und er wird nach und nach auf den Warenbaum gerollt. So muss man ein Farbgedächtnis entwickeln: wie habe ich angefangen und wie höre ich auf, damit alles zusammenpasst. Denn ich kann nie zurückdrehen, weil ich auf dieser Breite fünf Tonnen Spannung habe. Da ist also Kraft dahinter. Jeder Faden hat zwei Kilo Zug oder mehr.

Bei Fertigstellung wird die Spannung nachgelassen, um die fertige Tapisserie abzuschneiden. Dann kommt die große Überraschung, ob das Farbgedächtnis zuverlässig war. Das Gewebe zieht sich zusammen, das Material "Wolle" arbeitet und wirkt anders als bei einem gemalten Bild. Manchmal ist der Wandteppich auch ein wenig aus der Form geraten; was beabsichtigt war, fängt an lebendig zu werden, besonders wenn es in der dreidimensionalen Technik gewebt wurde. An einem Quadratmeter arbeitet man, bei ca. acht Stunden täglich, einen Monat. Normalerweise ist es immer eine Jahresarbeit."

Mein allererster Bildteppich war der ,Muschelteppich'; ich war 16 Jahre alt und er gehörte noch zu meiner Webausbildung. Ich fand im Urlaub an der Nordsee und in Griechenland Muscheln, und die musste ich dann zeichnen. Ich habe hunderte Muscheln gezeichnet, bis ich verstanden habe, wie eine Muschel überhaupt funktioniert, auch wenn sie zerbrochen ist. Und dann entstand dieser feingewebte Teppich. Lurçat hatte das auch oft gemacht: auf einen dunklen Grund einen helleren Grund, um dann das Motiv daraufsetzen. Somit erzielt man drei Ebenen und damit Tiefe.

,Glühende Kohlen' waren schließlich mein Meisterstück als Bildteppichweberin. Die Kunstschule von Lurçat war damals in einer ganz einfachen Baracke untergebracht, und da stand ein Kohleofen mit einem großen langen Ofenrohr. Jeden Morgen wurde das Türchen geöffnet, damit er Luft bekam. Ich ging vorbei und hatte die Idee. Welch eine Leuchtkraft liegt in diesem gehüteten Feuer!"

© Matthias Marx - Aufzeichnung eines Gesprächs im Juli 2019

© Jean Lurçat Museum Eppelborn - Alle Rechte vorbehalten

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