Die Apokalypse von Assy

von Matthias Marx

1. Am Ursprung der Wallfahrtskirche "Notre-Dame de Toute Grace" auf dem Plateau d' Assy (Hochsavoyen) steht ein Priester des Bistums Lille, Jean Devemy. Seit 1929 war er Kranken­hauspfarrer im dortigen Sanatorium von Sancellemoz. Der aufstrebende Ort Plateau d' Assy wurde immer bedeutender durch seine Lungenheilstätten und Hotels. Im Jahr 1938 gelang es Jean Devemy, hier die Planungen für den Bau einer Pfarrkirche zu beginnen. Mit Zustimmung des Bischofs von Annecy wurde der Architekt Novarina mit der Planung beauftragt.

Nachdem durch Vermittlung des Dominikanerpaters Marie-Alain Couturier ein Fenster von Rouault vorgesehen war, kamen im Laufe der Zeit viele Kontakte zu modernen Künstlern zustande, die alle an der Ausgestaltung dieser Kirche beteiligt wurden. Heute gilt die Kirche von Assy als ein Meisterwerk der Kunst des 20. Jahrhunderts, als ein Gesamtkunstwerk.

Jean Devemy hatte in Avignon alte Tapisserien gesehen und war durch die Schweizer Zeit­schrift "Formes et Couleurs" auf die zu dieser Zeit hochmoderne Erneuerung der Teppichkunst gestoßen. Seine Idee, die Apsis mit einer Tapisserie von Jean Lurcat auszukleiden, gefiel Novarina. Durch Vermittlung seines Architektenkollegen Moynat kam der Kontakt mit dem Künstler zustande. Auf eine erste Anfrage hin lehnte Lurcat entschieden ab. Doch später erklärte er sich bereit, den Auftrag anzunehmen, wenn alle finanziellen und organisatorischen Fragen für ein immerhin 55 qm großes Werk geklärt seien.

Da es sich um eine Marienkirche handelte, war für die Tapisserie als das zentrale Bild im Inneren als Thema vorgesehen: "Das Leben der Jungfrau Maria". Dazu berichtet Denise Majorel, Lurcats wichtigste Pariser Galeristin: "Er hat mir erzählt, dass er mit diesem Thema gar nicht froh war, und den Dominikanern gesagt hatte: 'Wissen Sie, ich bin Kommunist und nicht gläubig - ' worauf er die Antwort bekam: 'Aber man hat Ihnen doch einige Elemente dazu gegeben; Sie wissen, auch Michelangelo war nicht immer einverstanden mit den Themen, die man ihm gab.' Daraufhin hat Lurcat nichts mehr gesagt. Wochen später sind die Dominikaner erneut zu ihm gekommen und fragten: 'Haben Sie schon etwas gearbeitet zum Leben der Jungfrau Maria?' Seine Antwort: 'Ja, schon, aber ich bin noch nicht so richtig dran ... ' Da sagte einer der beiden: 'Aber hören Sie, Monsieur Lurcat, wir haben nachgedacht, wir haben uns geirrt; wir brauchen ein Thema, das Ihrem Temperament besser entspricht. Wir denken an das Thema der Apokalypse.' Damit war für Lurcat alles sonnenklar."

Abbe Devemy erzählt, er habe dem Künstler die betreffende Bibelstelle aus der Geheimen Offenbarung laut vorgelesen: "Dann erschien ein großes Zeichen am Himmel: eine Frau, mit der Sonne bekleidet; der Mond war unter ihren Füßen und ein Kranz von zwölf Sternen auf ihrem Haupt. Sie war schwanger und schrie vor Schmerz in ihren Geburtswehen .. Ein anderes Zeichen erschien am Himmel: ein Drache, groß und feuerrot, mit sieben Köpfen und zehn Hörnern und mit sieben Diademen auf seinen Köpfen. Sein Schwanz fegte ein Drittel der Sterne vom Himmel und warf sie auf die Erde herab. Der Drache stand vor der Frau, die gebären sollte; er wollte ihr Kind verschlingen, sobald es geboren war. Und sie gebar ein Kind, einen Sohn, der über alle Völker mit eisernem Zepter herrschen wird. Und ihr Kind wurde zu Gott und zu seinem Thron entrückt. Die Frau aber floh in die Wüste, wo Gott ihr einen Zufluchtsort geschaffen hatte; dort wird man sie mit Nahrung versorgen, zwolfhundertsechzig Tage lang. Da entbrannte im Himmel ein Kampf; Michael und seine Engel erhoben sich, um mit dem Drachen zu kämpfen. Der Drache und seine Engel kämpften, aber sie konnten sich nicht halten,und sie verloren ihren Platz im Himmel. Er wurde gestürzt, der große Drache, die alte Schlange, die Teufel oder Satan heißt und die ganze Welt verführt; der Drache wurde auf die Erde gestürzt, und mit ihm wurden seine Engel hinabgeworfen." (Offb 12, 1-9)

Die Reaktion des Künstlers auf diese Bibelstelle war folgende: "Er sprang auf. Er hörte mir genau zu, als ich ihm den ganzen Text betont vorlas. Mit weit aufgerissenen Augen sagte er mir schließlich: 'Das ist großartig, mein Leben lang habe ich auf ein solches Thema gewartet.' Dann habe ich noch hinzugefügt: 'Ihr seid wirklich alle seltsame Leute, ihr kennt die Illias, die Odysse, auswendig, aber ihr kennt nicht ein so großes Epos wie das Alte Testament, das das Neue vorbereitet.' Er sagte zu mir: 'Das ist wahr!' Und er hatte einen träumerischen Blick." Sicher kam ihm dabei in deutlicher Erinnerung seine Entdeckung der „Apokalypse von Angers" wieder vor Augen. Er hatte im Sommer 1938 in Angers diese riesige Tapisserienfolge aus dem 14. Jahrhundert erstmals gesehen und dort den Impuls zum Carton-Maler gefunden.

Von Abbe Devemy kam auch die Idee, wegen der Größe des Bildes die Form eines Trip-tychons zu wählen: Die Szene der Apokalypse zwischen dem Baum des Paradieses und dem Stammbaum Jesu, der Wurzel Jesse. Der Künstler fand diese Idee ausgezeichnet.

Lurcat war auch sensibel genug, den steinernen Altar und ein modernes Bronzekreuz (von Germaine Richier) als Zentrum des Altarraums zu respektieren. Deshalb lässt die Komposition des apokalyptischen Bildes die Mitte frei: "Ich kann nicht ein zentrales Thema ins Auge fassen, das alle Blicke auf die Tapisserie lenken würde, zum Nachteil des Altars, des einzig wirklichen Zentrums. Ich muss deshalb an ein bipolares Thema denken, das dieses Zentrum frei hält. ... Eine Kirche auszustatten, das ist eine ganz andere Sache, als eine Bahnhofshalle zu gestalten. Deshalb reflektiere ich über das vorgeschlagene Thema und mache mich mit dem Ort vertraut."

Zwölf Jahre später wird er sagen: "Als ich für die Kirche von Assy gearbeitet habe, waren die Dominikaner sehr gut zu mir. Sie haben mir gesagt: 'Es geht um den Kampf von Gut und Böse ... um zu wissen, um was es sich da handelt, muss man nicht katholisch sein ... ' Die Tapisserie der Apokalypse war der erste große in Frankreich hergestellte Wandteppich des zwanzigsten Jahrhunderts, mit Hilfe neuer Techniken und Konzeptionen ... Weder die Dominikaner noch ich haben versucht, uns auf das Feld der Propaganda zu begeben ... Es gab von beiden Seiten eine natürliche Weite des Geistes .... "

Im Laufe des Jahres 1947 entwarf Lurcat den Karton für dieses Meisterwerk, das den Besucher der Kirche in Assy heute noch fasziniert.

Die festliche Einweihung der gesamten Kirche fand am 4. August 1950 statt.

2. Wegen der großen Bedeutung dieses Werkes ist hier die gesamte erhaltene Korrespondenz Lurcats an Pater Devemy, bestehend aus fünf Briefen, wiedergegeben:

Brief von 1945: 
,,Für ein Werk von solcher Bedeutung, das mir beträchtliche Sorgfalt abverlangen würde, müsste ich mehr denn je mit Vorsicht ans Werk gehen und das Terrain gut erkunden. Dennoch muss ich sagen, dass es mir als Nicht-Glaubendem unmöglich ist, eine Tapisserie mit sehr religiösem Thema zu erarbeiten; ich habe die Arbeit für die Dominikaner zurückgewiesen- und sie haben mich ihre Wertschätzung spüren lassen- gerade infolge dieser Ablehnung. Man kann über so einen gewichtigen Vorgang nicht bei Rhetorik stehen bleiben. An diesem Punkt bleibe ich unnachgiebig.
Doch die Tatsache, dass an diesem Bau solche Männer wie Bonnard, und in einem gewissen Sinne auch Rouault, mitwirken, lässt mich darauf schließen, dass Architekten wie Kapitel höhere Ansprüche stellen und dass der Formalismus von Saint Sulpice von ihnen als Darstellung einer Verirrung angesehen wird- also letztlich in Gegensatz zu dem, was ein wahrhaftiger religiöser Geist sein muss oder sein will.
Letztes Jahr hat man in einem Benediktinerkloster eine Ausstellung gemacht mit zwei meiner großen profanen Stücke- sie wurden im Kreuzgang aufgehängt und vom Pater Superior kommentiert. Ich verbrachte fünf Tage mit den Mönchen und bin weiterhin von ihnen eingeladen, bei ihnen zu wohnen, mit ihnen zu essen, ohne dass man mich jemals aufgefordert hätte, an ihren Gottesdiensten oder Gebeten teilzunehmen.
Kommen wir zurück zu Sache. Ich kann noch keine genauen Hinweise geben. Das ist eine zu schwerwiegende Sache, als dass man sie in achtundvierzig Stunden regeln könnte. Denn ich erinnere ich mich, mit den Mönchen lange diskutiert zu haben über ein Werk mit den Folterwerkzeugen der Passion (Kreuz, Nägel, Lanze, Stoffbahn, Rüstung, Finsternis, Leitern usw.), ohne jegliche Darstellung Christi.
Dieses Thema hat mich immer verfolgt: Martyrium des Propheten, oder besser noch Lichtkegel, Erhellung eines Martyrers. Das ist eine Sache, die ich leidenschaftlich verfolgen würde. Das Thema ist schon im Mittelalter verfolgt worden, aber leider nur klein, als Bild über den Altar gehängt.
Es wäre auch möglich, was man „Gesang der Schöpfung" nennen könnte: Wasser, Dampf, Minerale, Tiere, Vegetation ... "

Brief vom 28.11.46:
„Lieber Kanonikus, ich bin ,in Trance' gefallen ... das heißt, wir werden mit dem Karton beginnen. Das Sperrholz, unbedingt wichtig für die Arbeit, kommt fertig an, und am Samstag richten die Arbeiter mein Atelier her. Ich brauche noch eine Bestätigung von Ihnen, mit Bauzeichnung und Dimensionen, Ort der Bögen und Säulen. Ich bitte Sie: antworten Sie schnell und glauben Sie an mein ganz herzliches Gedenken.
Links kommt dann, nicht wahr?, das irdische Paradies, rechts der Baum Jesse- ja, antworten Sie schnell! In Trance, sage ich Ihnen, lieber Kanonikus,               J.L. 

Brief vom 19.12.46:
"Mein lieber Pater, das erste Teilstück der Apokalypse (Irdisches Paradies, Schlange usw) geht morgen nach Aubusson. Seit einigen Tagen stelle ich Untersuchungen an für das Mittelteil- also ,Es erschien ein großes Zeichen (Wunder) ... usw sie war schwanger und schrie wie in Wehen .. ' Ich sehe bis dahin eine Jungfrau Maria, von der Sonne bekleidet, getragen von Engeln, doch mit Tränen (sie schrie ... )
Ist die Sache so möglich, Pater?
Links, da muss ich sagen, soll es (bis jetzt jedenfalls) eine Engelsgruppe geben, die im Zentrum der Kohorte ein kleines schlafendes Kind begleitet- symbolisch wäre das:
,Jesus wurde von einer Engelsgruppe herangetragen'. Was halten Sie davon? Ich glaube, so werde ich kaum einen Fehler machen.
Was den Baum Jesse angeht- ich habe vor, zwischen den Blättern Gestalten hinein zu malen­welche Gestalten? Sagen Sie mir die Namen, ich werde die sie betreffenden Namen in meine Komposition einbringen. Mit den besten Erinnerungen, nicht wahr?       J.L.

Brief vom 11.12.47:
„Mein lieber Kanonikus, ich bin weder in Frankreich noch in Amerika, ich bin im siebten Himmel, weil ich arbeite. In der letzten Zeit habe ich unseren sehr sympathischen Freund, Pater Couturier, getroffen, und wir haben uns unterhalten über Sancellemoz. Ich verlasse St.Cere am zweiten Abends, um am dritten in Paris zu sein- und ab Paris am fünften um am sechsten in Zürich zu sein. Aber sehr wahrscheinlich muss ich nach Genf fahren, einen Vortrag zu halten, und zweifellos könnten wir uns dort viel bequemer treffen.
Ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten über die Apokalypse, an die ich unablässig denke und zu der ich Ihnen sagen kann: die letzten Studien sind wirklich fertig. Ich verwahre hier bei mir eine Tapisserie, die mein Ausgangspunkt werden wird. Ich schlage Ihnen also vor, mein lieben Kanonikus, dass wir uns in Genf treffen, wenn Sie einer der Glücklichen sind, die 50 sfr besitzen; wenn nicht, könnte ich bis zur Grenze vorstoßen und wir könnten zusammen Mittag essen in ... im Moment kann ich mich überhaupt nicht mehr an die Station erinnern, die Tram führt dorthin von Genf aus.
Ich bin Ihnen herzlichst verbunden, bis bald, Pater,                         J.L.

Brief vom 31.12.49:
,,Tabard spannt die Kettfäden auf in Aubusson; Jesse ist schon zur Stelle und der Baum wächst... Morgen, mein lieber Abbe, knacken wir an der Kante des Kartons eine Ihrer Flaschen- und dann stoßen wir alle, der Schweizer Schüler, die beiden Lehrlinge aus Quebec, mein libanesischer Sekretär, meine bulgarische Frau und ich selbst an- auf Ihre Gesundheit und auf Ihre Schöpfung, die Kirche von Assy."

 

3. Zum Werk:

Maße: 455 x 1210 cm, Atelier Tabard

Im Mittelbild des Triptychons zieht direkt die riesige flammende Sonne den Blick des Betrachters auf sich. Vor einem gold-schwarzen Schuppenmuster erscheint die apokalyptische Frau. In ein feuriges Kleid gehüllt, hält sie in der Linken ein Symbol der Himmelssphären, mit der Rechten weist sie auf das noch ungeborene Kind in ihrem Schoß. Vor einem schwarzen Kreis liegt es friedlich schlafend, wie in einer Krippe. Diese Darstellung geht auf eine Anregung von Lurcats Freund Germain Bazin zurück, der ihm das ähnliche Marienmotiv in der Kunst der Ikonen nahegebracht hatte (Blacherniotissa). Das Gesicht der Frau ist streng und nicht von dieser Welt; statt der Haare umgibt ihr Haupt ein mehrfacher Kranz von blauen und silbernen Strahlen.
Ursprünglich ist in der Bibel mit der apokalyptischen Frau gemeint die Gegenüberstellung:
Frau/Drache = Israel/römische Fremdherrschaft. Nach exegetischer Forschung ist sie "Symbol der ihrem Urbild und Wesen nach vom Himmel stammenden Heilsgemeinde". Die obere Hälfte des Sonnenkreises öffnet sich nach innen, in ein weißes Feld, gefüllt von Sternen. Die berühmte Apokalypse von Angers zeigt die Frau ( ohne Sonne) von rotflammenden Strahlen umgeben. Die 17 gewaltigen Strahlen in Assy haben hier ihr Vorbild.
Auf der linken Hälfte des Mittelbildes bäumt sich der siebenköpfige Drache gegen sie auf. Gleichzeitig schleudert er ein Drittel der Sterne vom Himmel und wirft sie auf den Erdkreis unter sich herab. Im Gegensatz zur farbigen Sonne scheint der Drache fast in Schwarz­Weiß-Technik vor dem düsteren Hintergrund auf. Eine aufgeregte Schildkröte, die auf dem Panzer dieselben feurigen Strahlen aus dem Gewand der Frau trägt, drückt ihr Entsetzen aus. Doch so wie die Frau vor der Sonne in sich keimendes Leben birgt, ist mitten im Leib des Drachens schon das Zeichen des Todes zu sehen. Ein großer Totenschädel scheint dort auf, in dem ein schwarzer Salamander kriecht. Dem Salamander schrieb der mittelalterliche Volksglaube zu, dass er unbeschädigt im Feuer leben könne. So wird er hier zum Zeichen eines neuen, besseren Lebens, das den alten teuflischen Drachen überlebt. Dessen gewaltsames Ende zeigt Lurcat in der weißen unteren Zone des Bildes. Eine der gewaltigen Sonnenstrahlen rund um die Frau hat Gestalt angenommen: es ist ein lebender Feuerstrahl, der Erzengel Michael. Zwei strahlende Kreise sind vor seinem Leib: Ein roter umgibt sein Gesicht, rot wie der innerste Kreis der Sonne, ein blauer seine Brust, mit demselben Blau wie die Strahlen um das Haupt der Frau. Beide Kreise senden Strahlen aus, gegen den Drachen, der schon drei seiner Köpfe verloren hat, deren Hörner brechen. Michael rückt ihm zu Leibe, indem er mit einem dicken Stab (Offb 12, 5 "eiserner Stab") gegen ihn vorgeht. Das Untier beißt in den Stab, verfärbt dabei sein Gesicht; es sind die roten und blauen Strahlen des Erzengels, die den Totenschädel freilegen. Und seine Hörner brechen entzwei. Ein uraltes christliches Motiv (Liturgie der Osternacht) wird hier vom Künstler zitiert: Der Tod beißt zu, und so verbissen tötet er sich selbst. Dahinter steht das lateinische Wortspiel von mors (Tod) und morsus (Biss): "der Biss wird für den Beißenden tödlich".

Bemerkenswert scheint, dass die Haut des Drachen mit demselben Schuppenmotiv bedeckt ist wie der größte Teil im Inneren der Sonne. Damit wird unterstrichen, dass es zwei gewaltige Mächte aus dem Urstoff der Schöpfung sind, die sich hier gegenüberstehen: Das Gute und das Böse, das Himmlische und das Teuflische, das Menschliche und das Unmenschliche.
Ende der zwanziger Jahre hatte Lurcat einmal bemerkt:" Wir malen nur noch Monster!" und 1961 fügt er zum gleichen Thema hinzu: "Ich empfand eine Art großer Wollust, als ich die Monster der Apokalypse malte. Und diese Wollust empfinde ich auch heute noch, wenn ich Personen erfinde, die nicht völlig menschenähnlich sind ... ".
Dem Künstler gelingt hier eine faszinierende Zusammenschau der wichtigsten Elemente dieser biblischen Szene der Apokalypse. Gezeigt wird die schreckliche, aber nur vorläufige Macht des Bösen, die letzten Endes vor der ungeheuren Kraft dieser Sonne für immer weichen muss. Für Lurcat selbst liegt hinter den biblischen Motiven seine tiefe Überzeugung einer neuen Zukunft für die Menschheit, einer Morgendämmerung, von der er zeitlebens sprach. Noch auf seinem Grabstein steht inmitten einer Sonne: C'est 'aube - Ein neuer Morgen bricht an.

Konsequent in der Gesamtkonzeption windet sich auf dem linken Seitenteil die verführerische Schlange des Paradieses. Auf blutrotem Grund wächst der Baum des Lebens mit vielfarbigem Laub aus einer Urzelle. Diese Zelle ist eine von Lurcats geliebten Kreisen, wieder in vier Segmente geteilt. Diese Lebenszelle ruht im Wasser, in dem sich bunte Fische tummeln. Im Inneren des Kreises sind das Reich der Minerale und Kristalle, der Pflanzen und der Tiere gezeigt. Das Tierreich symbolisieren Stier und Vogel, das Pflanzenreich vielfache Wurzeln. Aus diesen Wurzeln wächst der Baum nach oben, aber auch das Böse in der Welt, die Schlange; sie ist schon an den Wurzeln der Welt. Im linken unteren Segment streckt sich ein golden leuchtender Mensch aus dem Dunkel heraus; er greift in die äußere Sphäre seiner Welt. Er überschreitet also als Einziger die festgelegte Natur; ebenso scheint er kräftig am Rad der Zeit zu drehen. Auf der höchsten Höhe des Baumes beißt die Schlange, umgeben von Vögeln und Schmetterlingen, in eine leuchtende Frucht. Auch hier geht es wieder um den Biss des Bösen, dem der Mensch all seine Hoffnung und seine Güte entgegensetzen muss. Fünf herrliche Tiere zieren dieses Teilstück an der rechten Seite: Drei Vögel, zuoberst der Hahn, ein Insekt und eine Schildkröte. Vielleicht ist es kein Zufall, dass der krähende Hahn auf der Höhe des Schlangenkopfes wie der Herold eines neuen Morgens, der Überwindung des Bösen erscheint.

Auch das Teilstück rechts der Sonne zeigt einen Baum: auf grünem Grund der Stammbaum Jesu aus der Wurzel Jesse. Damit ist Isai gemeint, der Vater des König David. Der Künstler zeigt diesen Stammvater zuunterst, sein langer Bart scheint aus Wurzeln zu bestehen. Auf seinen Armen und Schultern zeichnen sich starke Adern ab, die ebenfalls an Wurzeln erinnern. Was sich von hier aus verzweigt, die Geschichte der Könige Israels, ist eben Blutsverwandtschaft aus der Wurzel Jesse. Vier Königsporträts sind in den Zweigen sichtbar, sie erinnern an mykenische Masken. Zwischen dem Laubwerk versteckt, finden sich rote Früchte, die wie Feigen wirken. Je höher der Stammbaum wächst, umso zahlreicher werden die Früchte. Damit ist insgeheim angedeutet, dass dieser Stammbaum nicht etwa an Fruchtbarkeit verliert, sondern sich zu seiner höchsten Fruchtbarkeit entwickeln darf: zu Jesus Christus hin. Entgegen der Bildtradition erscheinen Maria und Christus nicht als Spitze, als Gipfel des Stammbaumes. Sie sind in der Frau vor der Sonne und ihrem Kind mitgemeint.
Lurcat wählt hier einen grünen Hintergrund, weil es um das Evangelium, um eine neue Schöpfung geht. Der gegenüberliegende Baum des Paradieses wächst vor einem roten Grund, weil im ersten Buch der Bibel die "Erde" (adamah) wörtlich "der rote Ackerboden" bedeutet.
Tief durchdacht und mit glühenden Farben breitet Jean Lurcat in Assy zentrale Motive der biblischen Botschaft aus. Sie sind auch für einen Nichtglaubenden deutbar, denn sie stellen das Drama zwischen Gut und Böse dar. Mit gewaltiger gestalterischer Kraft zeigt der Künstler die Bilder der Urzeit und einer kommenden Welt, das immer neue Aufbäumen des Bösen und die unwiderstehliche Hoffnung, dass das Gute den Sieg davonträgt. Auch ein gläubiger Betrachter weiß, dass weder die Gegenwart Gottes noch die Erlösung in Christus ihm den eigenen Kampf um das Gute erspart.

4. Schlussbeobachtungen:

Das Böse, der Drache, nimmt nur kleinen Raum ein. Er steht ganz allein, monolithisch da, in hartem Kontrast zur Sonne mit der Frau. Das Böse ist simpel, Schwarz-Weiß-Malerei - und ganz allein für sich. Dagegen ist die Erscheinung der Frau ganz komplex und dynamisch:
Flammen gegenüber der Eiseskälte. Und sie greifen weit aus, die Flammen - auch nach drüben zum Stammbaum Jesu hin. Da ist das Kraut (hier die Feige) gewachsen gegen den Tod. Kein unfruchtbarer Feigenbaum, wie im Gleichnis Jesu.
Links sind Schlange und Drache klar gegliedert getrennt - wenn auch von gleicher Rasse. Da geht es mit scharfem rationalem Schnitt zu. Gegenüber durchdringen sich Haus Israel und Apokalypse.
Die Fruchtbarkeit des Baumes und der Frau steht gegen Schlangenbiss und Totenschädel. Links beißt die Schlange zu, hält die Frucht des Baumes, nimmt sie für sich. Ganz anders rechts die Früchte der Wurzel Jesse ..... .  
Das ungeborene Kind ist Mittelpunkt einer Achse, vom Kreis des Kosmos ganz in der Höhe bis zu den Kreisen um Michaels Kopf, wo unten auf der Erde das sowieso schon verbissene Böse sich tot beißt. Die Frau hält die Ordnung des Kosmos hoch, nach unten wird das Böse erledigt. Der Drache reckt nur sich selbst empor und will das Gute der Erde vernichten.
Links fallen die Sterne, rechts geht ein neuer Stern auf.

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